Spätestens nach dem Mauerfall heute vor 20 Jahren und der Goldgräberstimmung in den 90er Jahren hat Berlin bewiesen, was diese Großstadt ausmacht: sie ist sexy – nicht zuletzt gerade wegen der einmaligen Geschichte dieser Metropole.
Umso peinlicher, dass die Berliner Polizei ausgerechnet heute, zum Jubiläum des Mauerfalls dazu beigetragen hat, dass sich Berlin um mehr als 20 Jahre zurückversetzt fühlen durfte und den Touristen ein völlig anderes Bild der Stadt zum Mauerfall präsentieren konnte: Die polizeiliche Organisation lief ganz einfach komplett schief. Schlimmer noch, die Touristen – zum Teil eigens angereist für das historische Großereignis – haben zu hauf Berliner Schnauze erleben dürfen, aus dem Munde der Berliner Polizei: „Reden se ma Deutsch. Ick verstehe keen Englisch.“
Ausgebuchte Hotels ließen schon vor Wochen ahnen, dass Berlin zum 9. November 2009 mit einem Touristen-Ansturm rechnen kann. Nicht so die Berliner Polizei: „Dit hat uns keener jesacht.“
Inforand im Rückblick zum 9. November 2009
9 Uhr 15, Berlin Prenzlauer Berg. Gethsemanekirche
Die offiziellen Feierlichkeiten beginnen an der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg. Hier fand ein ökumenischer Gottesdienst mit Politprominenz statt. Auch die Kanzlerin und der Bundespräsident waren angekündigt. An der Kirche hängt – wie schon vor 20 Jahren – das Plakat mit dem Spruch „Wachet und betet“. Gewacht wurde: Sicherheitsschleusen für die Besucher, Privatautos der Anwohner wurden wohlgemerkt spontan abgeschleppt, um für die internationale Presse Platz zu machen und Anwohner konnten weder rein noch raus aus ihrem Kiez. Ein schier unmögliches Chaos für die Prenzlberger auf dem Weg zur Arbeit.
15 Uhr, Berlin Bornholmer Straße, ehemaliger Grenzübergang Bornholmer Straße
Verständlicherweise wird in Berlin dazu aufgerufen, an diesem Tag die innerstädtischen Bezirke nicht mit dem Auto zu durchqueren. Doch am Nachmittag beim nächsten größeren Termin am ehemaligen Grenzübergang in der Bornholmer Straße versagte die Organisation wieder. Touristen und Bürger welche auf die S-Bahn umgestiegen sind, erfuhren erst spontan von der Sperrung des S-Bahnhofs Bornholmer Straße. Überraschung natürlich für Berliner und Berlintouristen: Recht orientierungslos suchen Tausende die Feierlichkeiten und sind merklich verärgert. Auch eine Übermacht der dort platzierten Berliner Polizei behindert den Weg zur Feier an der Bornholmer Straße und lässt somit das 20-jährige Jubiläum in einem sarkastisch anmutenden Licht stehen.
19 Uhr, Berlin Brandenburger Tor
Höhepunkt des Abends sollte das Fest der Freiheit am Brandenburger Tor werden. Der größte Ansturm an Touristen war also zu erwarten. So wurde schon frühzeitig der S- und U-Bahnhof Brandenburger Tor gesperrt und das Riesenaufgebot an Polizei in allen Straßen rundherum glich tatsächlich einem historischen Großereignis: Die Welt war schließlich eingeladen zu einem Volksfest am Brandenburger Tor. Doch die größten Flächen um den Pariser Platz sind gesperrt. Keinerlei Feststimmung, außer man gehörte der Politprominenz und den Medien an, nichts von einem Volksfest. Ehemalige DDR-Bürger fühlten sich zurückversetzt in altbekannte Paradenmuster, bei denen die Elite und das Militär hoheitsloyal am gemeinen Volk vorbeimarschierte.
Jene, die den Ansagen der Polizei Folge leisteten und in die Seitenstraßen auswichen, konnten unfreiwillig nachempfinden, wie die 89er Montagsrevolutionen stattgefunden haben: Wegen angeblicher Überfüllung wurden tausende Touristen und Bürger eingekesselt. Hat sich die Berliner Polizei hier nicht im Datum vertan? Einkesselung kennt man vom 1. Mai. Nun auch am 9. November?
Es scheint, dass der Berliner Polizei nun das gelungen ist, was vor 20 Jahren am 9. November versäumt wurde: Die Meute im Zaum zu halten, und das bei strömendem Regen. Auf Nachfragen bei anwesenden Polizisten hieß es: „Wir fragen mal nach“. Zwischenzeitlich waren Tausende durchnässt.
21 Uhr, Berlin Brandenburger Tor
„Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend.“
Tausende Gäste, die ein Volksfest erwartet hatten, ziehen nur schimpfend und sauer von dannen durch den Schlamm der umliegenden Baustellen, die Berlin leider auch nicht zum Mauerjubiläum fertig stellen konnte. 9. November – ein sehr historischer und heute auch peinlicher Tag für die Bundeshauptstadt.
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Boah, bin ich froh, dass ich Zuhause auf der Couch geblieben bin. Danke für den schönen Artikel und die ausführliche Stimmungslage!
Ich war bei den Feierlichkeiten auch vor Ort und kann den Teil deines Artikels zur Einkesselung nicht nachvollziehen.
Ich hatte immer mehr das Gefühl die Polizei würde den Pariser Platz gerne räumen. Man hatte jederzeit die Möglichkeit das Gelände zu verlassen, nur betreten wurde schwierig gemacht.
Leider war dies nicht überall so. Die Sperrungen in Etappen über die Straßen hinweg, führten dazu, dass man von der vordersten Front nicht mehr zurück konnte.
Die Fernsehbilder vom Abend haben dann auch schön gezeigt wieviel Platz eigentlich noch auf dem Gelände war.
Zustimmung zu dem Artikel! Am peinlichsten wurde es gestern nach 22 Uhr vorm Brandenburger Tor. Nur noch kleinere Menschengruppen waren anwesend, aber weiterhin blieb alles komplett abgeriegelt. Zur Ostseite hin gab es Lautsprecher-Durchsagen der Polizei: „Bitte drängeln sie nicht gegen die Absperrgitter! Das Brandenburger Tor wird aus Sicherheitsgründen nicht geöffnet!“
Es wurde noch besser bzw. schlechter: Ungefähr 30 schwarzgekleidete Wachschützer stellten sich am Pariser Platz direkt hinter die Absperrgitter, 15 uniformierte Polizisten in einer Kette dahinter. Trotzdem versuchten viele Touristen und Einheimische, die Sperrgitter zur Seite zu schieben, so daß Polizei schließlich auch noch vor den Sperren aufmarschierte.
Bis Mitternacht kam es zu Wortgefechten, ein Tourist brüllte auf englisch minutenlang seine Wut heraus. Genscher mit schwarzem Mantel tauchte um 22 Uhr 45 allein auf der Ostseite auf („Ist das wirklich Genscher?“ „Ja, eindeutig!), er war auch etwas ratlos. Zwei Polizeibeamte mußten über die Absperrgitter rüberklettern und ihn umständlich links durch eine aufgeschobene Lücke geleiten. Er ist aber noch gut zu Fuß.
Zeitweise sah es fast so aus, als ob es an den Sperren Verhaftungen geben würde – wenn jemand an den Gittern zog, gab es Jubelrufe. Zu dieser Zeit habe ich mir sehnlichst ein Fernsehteam herbeigewünscht. Ich glaube, es waren einige ausländische Teams, die dazu noch am meisten gefilmt und auch interviewt haben. Viele Besucher wanderten kopfschüttelnd wieder ab.
Auf die Frage, wer denn für die Absperrungen verantwortlich sei, das ZDF oder die Stadt Berlin, meinte ein Security-Mitarbeiter verlegen: „Der Bundestag“.
das ist ja übel, was hier berichtet wird. war es echt so wild? der kommentar von justus und der artikel lassen darauf schließen, dass es echt eine äußerst üble organisation war. meine fresse. was soll denn der ganze schmarren. einkesseln und dann nicht mal die polizeiliche kommunikation stimmt. ich habe außerdem gehört, dass bon jovi wohl da war, was die sache noch ein bisschen verpeinlicht. er singt für den frieden und ist aber eigentlich in berlin, um sein neues album zu promoten. die ganze feierlichkeit ist einfach nur panne. ich schäme mich gerade echt zum ersten mal, dass ich in deutschland lebe. man hätte auch so eine stimmung erzeugen können wie zur WM 2006. aber das hat ja wohl nicht so ganz hingehauen.
Die jubelnde Menschenmenge vor dem Brandenburger Tor zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, das waren „alle verfügbaren Polizeischüler“ der Stadt, in Zivilkleidung. Denn das sind „sensible Zuschauerbereiche“, und da sollten die Polizeischüler als „Stabilisatoren“ wirken. Und wer sich jetzt denkt, naja, 20 Jahre Mauerfall, das ist selten, da kann man da einmalig schon mal drüber hinwegsehen…:
Ein Polizeisprecher teilte auf Anfrage mit, der Einsatz von „Stabilisatoren“ sei in Berlin kein Einzelfall, sondern „eine bewährte taktische Maßnahme bei Veranstaltungen mit hohem Gefährdungspotential“.
Ja, meine Damen und Herren, das ist der Zustand unserer Demokratie. Unsere Junta hat so dermaßen den Rückhalt im Volk verloren, dass sie die Ränge auf solchen Veranstaltungen nicht mit ernsthaft positiv eingestellten Menschen gefüllt kriegen, und da Jubelperser hinstellen müssen. Wie damals im Ostblock!
Jetzt müssen wir nur noch für die Demonstranten ein paar Kilometer entfernt eine „First Amendment Zone“ absperren, und dann… oh warte, haben wir schon. Nennt sich „Bannmeile“. (Danke, Terrorpudel)