Vom Versagen der Intellektuellen in Kambodscha: Pol Pots Lächeln

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Was zeichnet den Intellektuellen aus? Der große Michel Foucault meinte: Der Intellektuelle soll zuhören und forschen, Sartre wiederum fügte an, ein Intellektueller müsse incorruptible sein. Alles das mag stimmen, doch war und ist die Welt voll von Intellektuellen, die sich offensichtlich und nachweisbar geirrt haben in ihren Bewertungen: Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihrem Kuba-Engagement in den 60er Jahren. Noch einmal Sartre mit seinem Besuch beim RAF-Terroristen Andreas Baader im Stammheim-Knast, um damit gegen angeblich unzumutbare Haftbedingungen zu protestieren. Und dann der Irak-Krieg: Von György Konrád über Hans Magnus Enzensberger bis hin zu Herfried Münkler – alle haben sich in ihren Bewertungen grandios getäuscht. Jetzt ist ein Buch erschienen, in dem das Versagen von vier schwedischen Intellektuellen während des Genozids in Kambodscha in den Jahren 1975 bis 1979 beleuchtet wird: Peter Fröberg Idlings Pol Pots Lächeln.

Als die Schweden in Phnom Penh ankamen, waren bereits 1 330 000 Menschen tot

Idling rekonstruiert eine Reise von zwei Frauen und zwei Männern in Pol Pots Kambodscha. Die vier, Gunnar Bergström, Hedda Ekerwald, Marita Wikander und Jan Myrdal, galten über Schwedens Grenzen hinaus als politisch engagierte Intellektuelle, und sie nahmen die Einladung von Pol Pot und den Schergen um ihn herum in das damals abgeriegelte Kambodscha allzu gerne an. Doch schon bevor sie in Phnom Penh landen, meinen die vier zu wissen, was Sache ist: Die Greuel in dem Land, von denen man hört, gibt es so nicht, die Nachrichten werden lediglich von falscher Seite kolportiert, um dem Land zu schaden, und zwar insbesondere von der Nixon-Kissinger-Administration. In der zweiten Hälfte des Jahres 1978, also kurz vor der Befreiung Kambodschas durch die Vietnamesen, reisten die vier für zwei Wochen in das Demokratische Kampuchea, und bereits auf Seite 35 des Buches beschreibt Idling, welches unsagbare Unrecht in dem Land in den drei Jahren zuvor geschehen war: „Bleibt man in der Welt der Statistik, so waren 1 330 000 Menschen bereits gestorben, als das Flugzeug der Schweden über Phnom Penh zur Landung ansetzte. Die Namen der Toten hätten knapp 10.500 Buchseiten wie diese gefüllt oder auch dreißig Bücher dieses Umfangs (352 Seiten – die Red.). Weitere 2.900 Seiten warteten (zum Zeitpunkt der Landung der Schweden – die Red.) ungeschrieben auf die noch Lebenden, die sterben würden.“ Was Idling damit wohl aussagen möchte: Es war der erste Nationalsuizid der Geschichte, und von diesem wollen die vier „Intellektuellen“, allen voran der international bekannte Schriftsteller Jan Myrdal, Sohn des Nobelpreisträgerehepaars Alva und Gunnar Myrdal, nichts mitbekommen haben. Sie waren gar blind für den Terror der Roten Khmer, und Idling hinterfragt in seinem Buch, wie so etwas überhaupt geschehen konnte. Zumal Pol Pot Jan Myrdal gar das einzige TV-Interview gewährte, das in den vier Terrorjahren geführt wurde, und der „Genosse 001“ hierin gemachte Verbrechen und den Hunger in seinem Land nicht mal unter den Teppich zu kehren versuchte. Nein, Pol Pot macht in dem Gespräch klar, dass man Feinde „zerschmettert“ habe und auch künftig „zerschmettern“ werde. Kritische Nachfragen Myrdals im Sinne von Foucaults eingangs beschriebenen Ansprüchen an Intellektuelle? Fehlanzeige! Stattdessen wird Myrdal nicht müde darin, den Massenmörder Pol Pot hartnäckig mit „Eure Exzellenz“ anzusprechen. Nein, in Myrdals Interview spielten Zwangsarbeit, Vertreibung, Folter, Enteignungen und Hinrichtungen keinerlei Rolle. Dafür schwärmt Myrdal von „Pol Pots Lächeln“, und so passt es, dass Myrdal und seine drei Begleiter allzu gerne während ihrer gesamten Reise auf eine Kulisse aus Potemkinschen Dörfern hereinfielen, die ihnen die Sicht auf die schreckliche Wahrheit verstellten. Sie erfreuten sich an der Schönheit der Reisfelder. Nach den Leichen, die zehntausendfach darunter lagen, fragten sie nicht.

Myrdal war nicht der einzige Denker, der sich fatal irrte

Man kann Myrdal nicht wirklich zugute halten, dass er nicht der einzige westeuropäische Intellektuelle war, der sich in den Einschätzungen des Ausmasses des Genozids in Kambodscha von 1975 bis 1979 irrte. Der Asien“experte“ Oskar Weggel etwa bezeichnete 1977 die Vertreibung der Menschen aus den Städten auf das Land (also die Deportationen) als „durchaus rational begründbar“, und die „Maßnahmen“ der Roten Khmer (also die Hinrichtungen) seien „Erziehungsmaßnahmen“. Per Olov Enquist und Noam Chomsky wiederum reichte es, die Taten der Roten Khmer damit zu rechtfertigen, dass sie „gegen den US-Imperialismus gerichtet sind“. Fast alle diese „Denker“ zeigten sich im Nachgang geläutert, nur einer nicht: Jan Myrdal. Immerhin war er bereit, sich den Fragen von Peter Fröberg Idling zu stellen, und dessen Kernfragen lauteten: Wie nur konnte Myrdal sich derart täuschen? Wie konnte es geschehen, dass sich (vermeintlich) intelligente Menschen derart hinter’s Licht führen ließen? Warum erkannte und erwähnte Myrdal nicht den Blutrausch Pol Pots, dem an die zwei Millionen Menschen, ein Drittel der Gesamtbevölkerung, zum Opfer fielen, sondern schwärmte nach seiner Rückkehr nach Schweden von lächelnden und winkenden und fleißigen Menschen in den hellgrün leuchtenden Reisfeldern? Hat er wirklich nichts darüber gewusst, dass und warum Menschen hingerichtet wurden? Etwa wenn sie flirteten oder eine Schale Reis abzweigten. Oder wenn man Insignien einer möglichen Intelligenz des Trägers bei ihnen fand, eine Brille zum Beispiel oder Krawatten? Die Antwort Myrdals: „Ich sah, was ich sah, und darüber habe ich geschrieben.“ Und 1999, zwanzig Jahre nach dem Ende des Genozids in Kambodscha, schrieb Myrdal: „Ich sah keinen Massenmord, als ich 1978 im Demokratischen Kampuchea war.“ Banal dies. Unsäglich banal. Aber vor allem erschreckend.

Das Rote-Khmer-Regime war das schlimmste der Moderne. Myrdal aber sah nichts.

Dafür gibt Peter Fröberg Idling in seinem Buch nachvollziehbare Antworten: Myrdal und seine drei Mitreisenden seien „nicht blind“ gewesen, sondern es habe eine „Kombination aus ihrer ideologischen Interpretation der Welt, ein Mangel an Erfahrung, eine wohlwollende Einstellung gegenüber den Gastgebern von den Roten Khmer und eine ganz gut funktionierende Maschinerie der Verschleierung“ gegeben. Nicht mal im Sartre’schen Sinne „incorruptible“ war Myrdal, denn Idling hat auch recherchiert, dass Myrdal mit Pol Pot gerne Austern aß, sich einmal sogar welche in die Tasche steckte. Austern für schwedische Intellektuelle in einem bettelarmen Land – es ist unfassbar! Idling, der drei Jahre vor Beginn der Schreckensherrschaft der Roten Khmer geboren wurde, sprach nicht nur mit Myrdal, sondern er bereiste Kambodscha mehrere Jahre. Dies, weil er das Land, seine Menschen und auch die Verbrechen, die ihnen angetan wurden, verstehen wollte. Wissen wollte, wie die Kambodschaner heute mit ihrer Geschichte umgehen. Er sprach mit Zeitzeugen und recherchierte in Bibliotheken, und herausgekommen ist eine Collage von O-Tönen, Fakten, Reiseeindrücken, Anekdoten und Reflexionen. Idlings Fazit: „(…) dass das Demokratische Kampuchea eines der schlimmsten, vielleicht das schlimmste Regime der Moderne ist. Eine Kombination aus unbeschreiblicher Brutalität und oft verblüffender Inkompetenz.“ Pol Pots Lächeln ist alles andere als leichte Kost, doch in der Gesamtbetrachtung ein ausgezeichnetes Buch und quasi Pflichtlektüre für alle, die es Idling gleichzutun gedenken: Kambodscha verstehen zu wollen.

Peter Fröberg Idling: „Pol Pots Lächeln“ Eine schwedische Reise durch das Kambodscha der Roten Khmer. Aus dem Schwedischen übersetzt von Andrea Fredriksson- Zederbauer. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main, 2013, 352 Seiten, 22,95 Euro. Mit einem Vorwort von Steve Sem-Sandberg und einem Nachwort des Autoren