Soziale Realität in Wittenberge – „Damals“ und „Früher“

Knapp drei Jahre lang untersuchte eine Gruppe von Soziologen und Ethnologen unter Leitung des Soziologieprofessors Heinz Bude das Leben der Einwohner in der ostdeutschen Kleinstadt Wittenberge. Das ZEITmagazin veröffentlicht in seiner aktuellen Ausgabe erstmals die wichtigsten Ergebnisse der Langzeitstudie, die zeigt, wie sich 20 Jahre nach der Wende die Gesellschaft in strukturschwachen Gegenden Ostdeutschlands verändert hat. Finanziert wurde das Projekt mit 1,7 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftler: Vom einstigen sozialistischen „Wir“ ist in Wittenberge nichts mehr zu spüren. Die gesellschaftlichen Gruppen stehen wie Säulen nebeneinander: Die „Gewinner“ und die „Verlierer“, die Unternehmer, die Rentner, die Arbeitslosen – sie haben nichts mehr miteinander zu tun und grenzen sich stark nach außen ab.

In Wittenberge gibt es heute Straßen, die nur noch aus eingefallenen Häusern bestehen. Ein Unternehmer vermarktet leere, verfallene Stadtteile als Nachkriegskulisse an die Filmindustrie. Die Hälfte der Erwerbstätigen pendelt. Die Geburtenrate in Wittenberge steigt – die Forscher sind sich unsicher, was dies bedeutet.

Die meistgenannten Wörter in den Interviews der Sozialforscher mit den Einwohnern Wittenberges sind „damals“ und „früher“. Resignation herrsche aber nicht in Wittenberge. „Mit dem Mauerfall waren große Erwartungen verbunden. Dann kam das ewige Warten der Wendezeit“, sagt Heinz Bude. „Jetzt geht es darum, was ist.“ Die Menschen sind realistisch und wissen: „Wer’s bisher nicht geschafft hat, wird es auch in Zukunft nicht mehr schaffen“.

Wittenberge wurde aufgrund seiner historischen Bedeutung ausgewählt. Früher stand hier das modernste Nähmaschinenwerk der Welt, das Wittenberge zu internationaler Bedeutung verhalf. Nach der Wende kam schnell der industrielle Zusammenbruch; die Stadt verlor rund die Hälfte ihrer Einwohner.