„Lose Your Head“: Ein morbider, verstörender und überraschender Film in der Tradition eines Cyril Collard. Grandios!

© Mutter Film / Janke

Der junge Spanier Luis, fulminant gespielt von Fernando Tielve, hat Madrid verlassen und taucht in Berlin ins Nachtleben ein. Keine schlechte Idee, wenn man, und das scheint bei Luis der Fall zu sein, Neues erleben will. Er will einfach raus aus dem Alltagstrott. Ausbrechen aus einer Beziehung mit einem Architekten, die langsam einzuschlafen droht. Was Luis dann aber in Berlin erlebt, verstört nicht nur den jungen und schönen Spanier, sondern auch den Zuschauer.

Hat Lose Your Head tatsächlich das Zeug zum „Kultfilm“?

Der Film beginnt, als hätte der Berliner Senat eine neue, eine flippige Form des Imagefilms in Auftrag gegeben, der im Ergebnis noch mehr Partytouristen in die Stadt locken soll. Erst denkt man sich: „Schön, aber nichts Neues“. Dann drängt sich die Frage auf, ob die Kollegen vom „Deutschlandradio“, die in Lose Your Head einen möglichen „Kultfilm“ ausgemacht haben, vielleicht in einem anderen Film waren, also eine Verwechslung vorliegt. Es kommt Verwunderung hinzu, dass man viele Hot Spots, die gezeigt werden, nicht kennt (die meisten Bars und Clubs, in denen gedreht wurde, haben inzwischen geschlossen), und irgendwann wird es der Autor dieser Kritik dann gar etwas leid, darüber nachzudenken, wo dieser Film denn eigentlich hin will. Doch das ändert sich nach etwa zwanzig Minuten schlagartig, als klar wird, dass Luis einem Vermissten ähnlich sieht.

„Lose Your Head“ entwickelt sich zu einem exzellenten Psychothriller

Die Schwester des Vermissten plakatiert Berlin mit „Missing“-Plakaten, und Luis lernt sie dabei kennen. Und er begegnet auf seiner Suche nach den Verheißungen möglicher Grenzerfahrungen in einem Club Viktor (Marko Mandic), in den sich Luis Hals über Kopf und mit Haut und Haaren verliebt. Spätestens nach dieser Begegnung mit diesem geheimnisumwitterten Viktor wandelt sich Lose your Head fast unvermittelt von einer vermeintlichen Berliner Milieustudie zu einem Psychothriller der allerfeinsten Art. Es stellt sich heraus, dass Viktor eine sexuelle Beziehung mit dem Vermissten hatte und Fragen tauchen auf: Ist Luis für Viktor vielleicht nur ein Ersatz? Ein Spielzeug mit Ähnlichkeit zum Vermissten? Und könnte Viktor, der etwas Böses, zum Teil gar Teuflisches, verkörpert, mit dem Verschwinden des Gesuchten etwas zu tun, ihn gar ermordet und beseitigt haben? Das muss man sich gar fragen, weil es eine wirklich innige Zuneigung der beiden nicht gibt, Viktor sich gar dagegen zu sperren scheint.

luis&viktor_300x300
© Mutter Film

Berliner Nachtleben: „It is a complete absence of fear…“

Der Film antwortet auf alles das nicht wirklich und fordert den Zuschauer so automatisch auf, selbst mögliche Antworten im Kopf durchzuspielen. Der Film spielt ständig mit Andeutungen und Metaphern, eine undurchschaubare Handlungsmelange, wo die Szenen zwischen Realität und Phantasie, Ängsten und Sehnsüchten hin und her changieren. Tagsüber ist Luis oft eingesperrt, doch nachts ist er frei: „It is a complete absence of fear. Like there is no border between you and the others“, schwärmt Luis nach der ersten Partynacht. Bedeutet das vielleicht eine Verherrlichung des Hedonismus? Viktor wirft Luis in die Spree, und der Zuschauer beobachtet ihn beim Untergehen. Ist das eine andere Form der Visualisierung des Eintauchens in die Berliner Nächte, die ja auch bedrohlich, gar lebensgefährlich sein können? Eine Katze mag nicht angefasst werden von Luis, sie faucht ihn an und hält ihn so auf Distanz. Ist es vielleicht eine Warnung an Luis, er möge die Finger vom Unbekannten, vermeintlich Gefährlichen lassen? Doch sobald man dann irgendwelche Spekulationen anstellt, wie eine Szene ausgehen und wie es weitergehen könnte, nimmt der Film eine andere Wendung. Wie dem auch sei: Luis verändert sich und ist zunehmend nicht mehr derjenige, wie der Zuschauer ihn zu Beginn des Filmes kennengelernt hat. An die Stelle von Leichtigkeit, Neugierde und Friedfertigkeit tritt Angst, Misstrauen und Gewalt.

Ein sauguter Film!

Lose Your Head hat eine unheimlich dichte Atmosphäre, die zum Schluss hin schier unerträglich wird. Ein Schluss übrigens, der visuell exzellent umgesetzt wurde. Damit erinnert Lose Your Head in seiner morbiden Düsternis stellenweise an Cyril Collards faszinierendes Werk Wilde Nächte (Les Nuits Fauves, 1992). Luis bekennt zum Schluss, den die beiden Filmemacher von seiner Bedeutung her offen lassen, was die zahlreich eingeworfenen Drogen aus ihm gemacht haben: „You are gonna lose your head!“ So aber geht es auch denen, die keine Drogen nehmen, wenn sie diesen außergewöhnlichen Film gesehen haben und anschließend vollkommen verstört und verwirrt das Kino verlassen. Ein Film, der so etwas bewirkt, ist ein sauguter Film. Die Kollegen vom „Deutschlandradio“ haben also recht: Lose Your Head könnte in der Tat ein Kultfilm werden!

Lose Your Head (2012)
Schauspieler: Fernando Tielve, Marco Mandic, Samia Chancrin, Sesede Terziyan u. v. a. m.
Regie: Stefan Westerwelle und Patrick Schuckmann