Alle Leitungen sind dicht – 9Live stellt den Call-In-Betrieb ein

Es hat sich ausgebuzzert – der „Hot Button“, das Markenzeichen des Call-In-Senders „Neun Live“, wird nach Ablauf dieses Monats nie wieder zuschlagen: Heute morgen gab die ProSiebenSat.1 Media AG bekannt, dass der Sendebetrieb des Live-Programms von „Deutschlands führender Marke für interaktive Programmangebote“ – so die Eigenbezeichnung des Senders – zum 31. Mai 2011 vollständig eingestellt werden soll. Im selben Zug würden gleichermaßen sämtliche weiteren „Call-In“-Produktionen, die zur Zeit noch auf den übrigen Sendern des Unternehmens laufen, nicht weiter fortgeführt werden. Als Begründung für diese Entscheidung nannte die Konzernleitung drastische Umsatzverluste im Programmsegment der sogenannten „Mitmach-Shows“. Der freie Sendeplatz werde dann ab Juni auf unbestimmte Zeit für die Ausstrahlung fiktionaler Programme genutzt werden.

Mit diesem Schritt löst sich das größte Fernsehunternehmen Deutschlands komplett von einem Format, welches vor allem in den letzten Jahren durch immer heftiger geführte Kontroversen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt ist und läutet damit zehn Jahre nach Gründung des Senders 9 Live vielleicht nicht das baldige Ende des Kapitels „Call-In“ im deutschen Fernsehen ein, setzt aber zumindest das Signal, dass die Branche offensichtlich arg ins Straucheln geraten sein könnte. Von den zahlreichen Gegnern des Formats wird diese Entwicklung zumindest als Teilerfolg gesehen werden.

Nachdem es nunmehr ein Jahrzehnt lang relativ ungehemmt durch die deutsche Fernsehlandschaft spuken, rumpeln und toben durfte, kann das Gespenst 9 Live also mit dem Ende des Monats Mai als „wirklich mausetot“ bezeichnet werden – doch nach Ansicht seiner Gegner soll es schon lange zuvor angefangen haben zu stinken. Auch wenn sich Betreiber und Moderatoren oft und gerne solcher Worte wie „fair“ und „transparent“ bedienten, um sie gleich einer Art verbaler Qualitätsetiketten auf ihr Portfolio an „interaktiven Programmangeboten und innovativen Spiele- und Programmideen“ zu heften, schienen diese Begriffe hierbei ihrer eigentlichen Bedeutung nur selten gerecht zu werden: Spielregeln wurden nur äußerst knapp erklärt und boten somit statt nur einer richtigen Lösung theoretisch gleich mehrere gleichermaßen plausible Möglichkeiten für die „richtige Antwort“, jeweils abhängig davon, welche Angaben in einem Spiel für die Bewältigung der Aufgabe von Belang waren – wirklich konkrete Vorgaben über die Wertung gab es für die Zuschauer nicht. Das Raten von verdeckten Begriffen verlief oft nach einem interessanten Schema: beim Erraten von beispielsweise zwölf Automarken mit demselben Anfangsbuchstaben hätte man dabei etwa mit jeweils zwei oder drei Einträgen der Art „Volvo“ oder „Volkswagen“ rechnen können, während sich unter den übrigen Begriffen erwartungsgemäß eher obskure Markennamen versteckt hätten, deren Träger auch schon mal ein halbes Jahr nach der Firmengründung in den 30er Jahren Konkurs angemeldet haben konnten. Auch kam es vor, dass Details, die in einem Spiel für die Lösung als relevant angesehen wurden, in einem anderen gleichen Stils ignoriert werden sollten. Viele Sendungen endeten oft nach Stunden, ohne dass ein Anrufer die richtige Antwort für ein Rätsel nennen konnte und irgendwann schienen es selbst die Moderatoren als höchstens optional anzusehen, diese dem Zuschauer nach Spielende mitzuteilen.

Auch das Prinzip, nach dem die zahlenden Mitspieler in die Sendung durchgestellt wurden, schien Teil der viel beschworenen Transparenz seitens der Betreiber zu sein und ließ sich damit also bestenfalls erahnen. Oft hatten Anrufer mit verblüffend ähnlich klingenden Stimmen aber jeweils unterschiedlichen Namen das Glück, eine der freien Leitungen zu treffen, um dem Moderator ihren Lösungsvorschlag zu unterbreiten – häufig waren diese dann aber auch von einer dermaßen haarsträubenden Qualität, dass sich wohl so mancher Zuschauer nur wundern konnte, wie jemand mit der Fähigkeit zu solchen Geistesblitzen überhaupt in der Lage war, die richtige Nummer der Mitmach-Hotline auf einem Telefon zu wählen. Vielleicht blieb bei dem rasanten Showverlauf auch einfach keine Zeit für ein paar skeptische Überlegungen, denn in „Call-In“-Shows gilt stets Schnelligkeit als oberstes Gebot und Zeit ist immer knapp – auch dann, wenn sich die gerade ausgestrahlte Sendung bereits seit Stunden durch das Programm gezogen haben sollte. Zumindest möchte man glauben, dass dies die Ansicht der Moderatoren sei, die sich bei Call-In weniger in der Rolle des Quizmasters befinden, sondern vielmehr den Eindruck vermitteln, dem Zuschauer eine Art Animationsprogramm zwecks Erhöhung der Mitspielbereitschaft zu bieten, welches sich – je nach Persönlichkeit des jeweiligen Spielleiters – irgendwo zwischen Playa de Palma und Psychose bewegen kann.

So verliert das Fernsehen mit 9 Live in seiner noch bestehenden Form eine seiner wohl bizarrsten Attraktionen; der ehemals profitabelste deutsche Fernsehsender ist zuletzt nicht – wie noch vor einigen Jahren erwartet – an den Bestimmungen der Landesmedienanstalten, sondern an den Maßstäben der Wirtschaftlichkeit gescheitert. Ob und in welchem Maße die Gründe für den Abgang der Marke 9 Live mitsamt ihrer Auswüchse im Programm einiger Privatsender auf die Tätigkeiten der Kritiker unter den Zuschauern und die Verbreitung ihrer Beobachtungen im Internet zurückzuführen sind, wird unter diesen sicherlich noch eine Weile lang für Diskussionsstoff sorgen – alle anderen können sich einfach über ein entspannteres Fernsehprogramm freuen, bei dem wesentlich seltener mit hysterischen Aufforderungen zur Teilnahme an abstrusen Spielchen zu rechnen sein wird.

Nachtrag vom 01.06.2011: Weitere Informationen zum Thema auf Neun Live – der leise Abschied vom schrillen Spektakel

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